Eine Geschichte ...
hier eine kleine Geschichte aus dem Arsenal des indischen Religionsstifters Sri Ramakrishna, nacherzählt vom deutschen Indologen Heinrich Zimmer.
"(...)
Das erwähnte Beispiel handelt von einem Tigerjungen, das zwischen Ziegen aufwuchs, aber durch
glückliche Führung eines geistigen Lehrers zur Erkenntnis seiner eigenen ungeahnten Natur gebracht
wurde. Die Mutter war bei seiner Geburt gestorben. Während ihrer Trächtigkeit war sie viele Tage
auf Raub ausgegangen, ohne eine Beute zu finden, bis sie zu jener Herde herumstreifender Wildziegen
gelangte. Inzwischen war die Tigerin heißhungrig geworden, und das mag die Heftigkeit ihres
Sprunges erklären; jedenfalls trieb die Gewalt des Sprunges ihr die Frucht aus dem Leib, und vor
Hunger und Entkräftung starb sie alsbald. Das Neugeborene, das neben der toten Mutter leise
wimmerte, wurde von den Ziegen, die nach dem Schrecken wieder auf ihre Weide zurückkehrten,
mit mütterlicher Liebe aufgenommen, und sie zogen es mit ihrer Milch gemeinsam mit den Zicklein
auf. Es wurde unter den Ziegen groß und lohnte ihnen ihre Mühe. Denn der kleine Tiger lernte die
Ziegensprache, paßte seine Stimme ihrem sanften Meckern an und zeigte ebensoviel Anhänglichkeit
wie die anderen Jungen der Herde. Anfangs fiel es ihm schwer, die dünnen Grashalme mit seinen
spitzen Zähnen zu rupfen, aber irgendwie gelang es ihm schließlich. Die Pflanzenkost hielt ihn sehr
mager und verlieh seinem Temperament eine beachtliche Sanftmut.
Als der junge Tiger unter den Ziegen das Vernunftalter erreicht hatte, wurde die Herde eines Nachts
wieder angefallen; ein starker alter Tiger brach unter sie ein, und wiederum stoben alle auseinander.
Nur das Tigerjunge blieb furchtlos stehen und starrte das schreckliche Dschungelwesen verblüfft an.
Auch der große Tiger verwunderte sich über den Kleinen, der erst verdutzt dastand, schließlich verlegen
einen Grashalm rupfte und meckernd daran kaute, während der alte Tiger ihn immer noch anstarrte.
Plötzlich fragte der mächtige Eindringling: 'Was tust du hier unter den Ziegen? Was kaust du da?'
Das sonderbare kleine Wesen meckerte. Der Alte wurde nun wirklich furchterregend. Er brüllte: 'Was
soll dieser alberne Laut?' Und ehe der andere antworten konnte, packte er ihn beim Kragen und
schüttelte ihn tüchtig, wie um ihn wider zur Besinnung zu bringen. Danach schleppte der Dschungeltiger
das erschrockene Junge zu einem nahen Teich, stellte es an den Rand und ließ es in den
monderhellten Spiegel blicken. 'Schau dein Bild im Wasser an - bist du nicht ganz wie ich? Du hast
genau wie ich das Vollmondgesicht des Tigers. Warum bildest du dir ein, eine Ziege zu sein? Warum
meckerst du? Warum frißt du Grashalme?'
Der Kleine vermochte nicht zu antworten, starrte aber weiter die beiden Spiegelbilder an und verglich
sie. Dann fühlte er sich unbehaglich, trat von einer Tatze auf die andere und gab wieder einen
bekümmerten zittrigen Schrei von sich. Der grimmige Alte packte ihn erneut und trug ihn zu seiner
Höhle, wo er ihm ein von seinem letzten Mahl übriggebliebenes Stück blutigen rohen Fleisches vorlegte.
Das Tigerjunge schüttelte sich vor Ekel. Aber der Dschungeltiger kümmerte sich nicht weiter
um das schwache Protestmeckern, sondern befahl schroff: 'Nimm das! Friß! Schluck es hinunter!'
Das Junge sträubte sich, aber der Alte zwang es ihm zwischen die Zähne und wachte darüber, daß
es die Nahrung kaute und hinunterschlang. Mit kläglichem Meckern würgte es die ersten Bissen der
ungewohnten zähen Kost hinunter, bald aber fand es Geschmack am Blut und fraß den Rest mir einer
Lust, die seinen Leib wie ein Wunder durchdrang. Es leckte sich die Lefzen, erhob sich und riß
das Maul zu einem riesigen Gähnen auf, so als erwache es aus tiefem Schlaf - einem Schlaf, der es
jahrelang in seinem Bann gehalten hatte. Es streckte sich, machte einen Buckel, hob die Tatzen und
zeigte die Krallen. Sein Schweif peitschte den Boden, und plötzlich brach aus seiner Kehle ein furchterregendes
triumphierendes Tigerbrüllen.
Währenddessen hatte es der grimmige Lehrer prüfend und mit zunehmender Befriedigung beobachtet.
Die Verwandlung war tatsächlich geglückt. Als das Brüllen verstummt war, fragte er mürrisch:
"Weißt du jetzt, was du wirklich bist? Komm mit mir in den Dschungel, du sollst lernen, der Tiger zu
werden, der du immer schon warst."
(in: H. Zimmer, Philosophie und Religion Indiens. Aus dem Amerikanischen [1950] von Lucy Heyer-Grote, 6. Aufl., Frankfurt am Main 1988)
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Das erwähnte Beispiel handelt von einem Tigerjungen, das zwischen Ziegen aufwuchs, aber durch
glückliche Führung eines geistigen Lehrers zur Erkenntnis seiner eigenen ungeahnten Natur gebracht
wurde. Die Mutter war bei seiner Geburt gestorben. Während ihrer Trächtigkeit war sie viele Tage
auf Raub ausgegangen, ohne eine Beute zu finden, bis sie zu jener Herde herumstreifender Wildziegen
gelangte. Inzwischen war die Tigerin heißhungrig geworden, und das mag die Heftigkeit ihres
Sprunges erklären; jedenfalls trieb die Gewalt des Sprunges ihr die Frucht aus dem Leib, und vor
Hunger und Entkräftung starb sie alsbald. Das Neugeborene, das neben der toten Mutter leise
wimmerte, wurde von den Ziegen, die nach dem Schrecken wieder auf ihre Weide zurückkehrten,
mit mütterlicher Liebe aufgenommen, und sie zogen es mit ihrer Milch gemeinsam mit den Zicklein
auf. Es wurde unter den Ziegen groß und lohnte ihnen ihre Mühe. Denn der kleine Tiger lernte die
Ziegensprache, paßte seine Stimme ihrem sanften Meckern an und zeigte ebensoviel Anhänglichkeit
wie die anderen Jungen der Herde. Anfangs fiel es ihm schwer, die dünnen Grashalme mit seinen
spitzen Zähnen zu rupfen, aber irgendwie gelang es ihm schließlich. Die Pflanzenkost hielt ihn sehr
mager und verlieh seinem Temperament eine beachtliche Sanftmut.
Als der junge Tiger unter den Ziegen das Vernunftalter erreicht hatte, wurde die Herde eines Nachts
wieder angefallen; ein starker alter Tiger brach unter sie ein, und wiederum stoben alle auseinander.
Nur das Tigerjunge blieb furchtlos stehen und starrte das schreckliche Dschungelwesen verblüfft an.
Auch der große Tiger verwunderte sich über den Kleinen, der erst verdutzt dastand, schließlich verlegen
einen Grashalm rupfte und meckernd daran kaute, während der alte Tiger ihn immer noch anstarrte.
Plötzlich fragte der mächtige Eindringling: 'Was tust du hier unter den Ziegen? Was kaust du da?'
Das sonderbare kleine Wesen meckerte. Der Alte wurde nun wirklich furchterregend. Er brüllte: 'Was
soll dieser alberne Laut?' Und ehe der andere antworten konnte, packte er ihn beim Kragen und
schüttelte ihn tüchtig, wie um ihn wider zur Besinnung zu bringen. Danach schleppte der Dschungeltiger
das erschrockene Junge zu einem nahen Teich, stellte es an den Rand und ließ es in den
monderhellten Spiegel blicken. 'Schau dein Bild im Wasser an - bist du nicht ganz wie ich? Du hast
genau wie ich das Vollmondgesicht des Tigers. Warum bildest du dir ein, eine Ziege zu sein? Warum
meckerst du? Warum frißt du Grashalme?'
Der Kleine vermochte nicht zu antworten, starrte aber weiter die beiden Spiegelbilder an und verglich
sie. Dann fühlte er sich unbehaglich, trat von einer Tatze auf die andere und gab wieder einen
bekümmerten zittrigen Schrei von sich. Der grimmige Alte packte ihn erneut und trug ihn zu seiner
Höhle, wo er ihm ein von seinem letzten Mahl übriggebliebenes Stück blutigen rohen Fleisches vorlegte.
Das Tigerjunge schüttelte sich vor Ekel. Aber der Dschungeltiger kümmerte sich nicht weiter
um das schwache Protestmeckern, sondern befahl schroff: 'Nimm das! Friß! Schluck es hinunter!'
Das Junge sträubte sich, aber der Alte zwang es ihm zwischen die Zähne und wachte darüber, daß
es die Nahrung kaute und hinunterschlang. Mit kläglichem Meckern würgte es die ersten Bissen der
ungewohnten zähen Kost hinunter, bald aber fand es Geschmack am Blut und fraß den Rest mir einer
Lust, die seinen Leib wie ein Wunder durchdrang. Es leckte sich die Lefzen, erhob sich und riß
das Maul zu einem riesigen Gähnen auf, so als erwache es aus tiefem Schlaf - einem Schlaf, der es
jahrelang in seinem Bann gehalten hatte. Es streckte sich, machte einen Buckel, hob die Tatzen und
zeigte die Krallen. Sein Schweif peitschte den Boden, und plötzlich brach aus seiner Kehle ein furchterregendes
triumphierendes Tigerbrüllen.
Währenddessen hatte es der grimmige Lehrer prüfend und mit zunehmender Befriedigung beobachtet.
Die Verwandlung war tatsächlich geglückt. Als das Brüllen verstummt war, fragte er mürrisch:
"Weißt du jetzt, was du wirklich bist? Komm mit mir in den Dschungel, du sollst lernen, der Tiger zu
werden, der du immer schon warst."
(in: H. Zimmer, Philosophie und Religion Indiens. Aus dem Amerikanischen [1950] von Lucy Heyer-Grote, 6. Aufl., Frankfurt am Main 1988)
Sternenblume - 24. Apr, 13:20